25.10.2023 von Bianca Dlugosch

Wildpinkeln in der Lübecker Bucht: Ein Fall von Ordnung und Naturrecht

Es sind oft die alltäglichen und scheinbar banalen Vorfälle, die uns die Komplexität und Vielschichtigkeit des Rechtssystems vor Augen führen. Ein unbedachter Moment, eine natürliche Handlung, ein Eingreifen der Ordnungshüter – und plötzlich findet man sich in einem rechtlichen Dilemma wieder. Genau so erging es einem Mann an einer lauen Sommernacht in der malerischen Lübecker Bucht. Doch dieser Fall, der auf den ersten Blick wie eine klare Ordnungswidrigkeit aussah, brachte eine tiefere juristische Diskussion mit sich, die die Grenzen zwischen öffentlicher Ordnung, persönlichen Rechten und der natürlichen menschlichen Natur erkundet.

Der Fall: Eine laue Sommernacht und ein unerwarteter Besuch

In der Nacht des 30. Juli 2022, gegen 00:36 Uhr, genoss ein Mann gemeinsam mit seinem Freundeskreis die malerische Atmosphäre der Lübecker Bucht. Inmitten dieser idyllischen Szenerie fühlte er das Bedürfnis, sich zu erleichtern und trat an den Spülsaum der Ostsee, um dort zu urinieren. In der Annahme, dass die Dunkelheit und die Weite des Meeres genügend Schutz bieten würden, stand er mit dem Rücken zum Strand und blickte in Richtung Wasser.

Doch trotz der Dunkelheit und seiner angenommenen Diskretion wurde er von Mitarbeitern des Ordnungsamts entdeckt, die ihn mit Taschenlampen ausleuchteten. Diese warteten geduldig, bis der Mann fertig war, und präsentierten ihm dann eine Geldbuße von 60 Euro wegen „Wildpinkelns“.

Die Entscheidung des Amtsgerichts Lübeck

Das Amtsgericht Lübeck, vor dem der Fall schließlich verhandelt wurde, sprach den Mann am 29.06.2023 frei (Aktenzeichen 83a OWi 739 Js 4140/23 jug.). Die Urteilsfindung beruhte auf einer sorgfältigen Prüfung mehrerer Aspekte des Falles:

Bestätigung des Vorgangs:

Zu Beginn des Verfahrens gestand der betroffene Mann den Vorfall. Dies wurde durch die Zeugenaussagen der Ordnungsamtsmitarbeiter weiter bekräftigt. Diese sahen den Mann in der Dunkelheit am Spülsaum der Ostsee urinieren und leiteten daraufhin die weiteren Schritte ein. Doch trotz dieser Bestätigung konnte das Gericht nicht eindeutig feststellen, dass die Verrichtung unter den gegebenen Umständen tatsächlich eine Belästigung für die Allgemeinheit darstellte.

Bewertung der Umstände:

Die spezifischen Umstände des Vorfalls spielten eine entscheidende Rolle bei der Entscheidung des Gerichts. Es war eine dunkle Nacht, und der Mann hatte einen deutlichen Abstand von etwa 20 Metern zu seiner Freundesgruppe eingehalten. Zu dieser späten Stunde waren auch keine weiteren Spaziergänger in der Nähe.

Rechtliche Bewertung:

Das Gericht musste prüfen, ob das Urinieren unter freiem Himmel per se als eine „grob ungehörige Handlung” im Sinne des § 118 OWiG angesehen werden kann. Es kam zu dem Schluss, dass das Urinieren, sofern es diskret und mit Rücksichtnahme erfolgt, nicht zwangsläufig als grob ungehörig oder als Belästigung der Allgemeinheit betrachtet werden kann. Ein weiteres überzeugendes Argument war die schiere Wassermenge der Ostsee – selbst bei wiederholtem Urinieren wäre der Verdünnungsgrad so hoch, dass weder eine signifikante Verschmutzung noch eine Geruchsbelästigung zu erwarten wäre.

Naturrechtliche Perspektive:

In einer besonders bemerkenswerten Passage des Urteils zog das Gericht Parallelen zwischen dem Verhalten des Menschen und dem von Tieren in der Natur. Es argumentierte, dass der Mensch in der freien Natur nicht weniger Rechte hat als ein Reh im Wald oder eine Robbe an der Küste. Dieser naturrechtliche Standpunkt betont, dass das Urinieren, sofern es rücksichtsvoll geschieht, als eine durch die allgemeine Handlungsfreiheit geschützte menschliche Handlung betrachtet werden kann.

Fazit

Der Fall des „Wildpinkelns“ in der Lübecker Bucht veranschaulicht, wie das Ordnungsrecht in seiner Anwendung nicht starr und unverrückbar ist, sondern Raum für Interpretation und menschliches Ermessen lässt. Während das Urinieren in der Öffentlichkeit üblicherweise als Verstoß gegen die öffentliche Ordnung betrachtet wird, zeigte das Amtsgericht Lübeck in seiner Entscheidung, dass es stets die konkreten Umstände des Einzelfalls berücksichtigen muss.

Besonders bemerkenswert ist die naturrechtliche Perspektive, die das Gericht in seiner Urteilsbegründung eingenommen hat. Es erinnert uns daran, dass wir, auch wenn wir in einer von Regeln und Gesetzen geprägten Gesellschaft leben, immer noch ein Teil der Natur sind und unsere Handlungen oft von natürlichen Bedürfnissen und Instinkten geleitet werden.

Wir stehen Ihnen gerne für eine persönliche Beratung zur Verfügung. Unser erfahrenes Team von Anwälten kann Ihnen helfen, die Auswirkungen dieses Urteils zu verstehen und Sie bei rechtlichen Fragen unterstützen. Anwaltskanzlei Bauer & Kollegen

 

 

Dieser Blog-Artikel dient nur zu Informationszwecken und stellt keine Rechtsberatung dar. Bei spezifischen Fragen oder Anliegen sollten Sie sich an einen qualifizierten Rechtsanwalt wenden.

Quelle der Entscheidung: Entscheidung des Amtsgericht Lübeck vom 29.06.2023, oder: Direktlink zur Entscheidung des Gerichtes.

 




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