04.10.2023 von Bianca Dlugosch
Landesarbeitsgericht Niedersachsen: Urteil zu Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen im Arbeitsrecht
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sind ein wesentlicher Bestandteil des Arbeitsverhältnisses und bieten sowohl Arbeitnehmern als auch Arbeitgebern Sicherheit und Klarheit über den Gesundheitszustand eines Mitarbeiters. Doch was passiert, wenn die Echtheit einer solchen Bescheinigung in Frage gestellt wird, insbesondere im Kontext einer Kündigung? Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen hat am 08.03.2023 ein Urteil zu diesem heiklen Thema gefällt (Aktenzeichen: 8 Sa 859/22). In diesem Blogartikel werfen wir einen detaillierten Blick auf den Fall und seine Bedeutung für das Arbeitsrecht in Deutschland.
Hintergrund des Falles
Der Kläger war seit März 2021 als Helfer bei der Beklagten, einer Zeitarbeitsfirma, tätig. Ab dem 21.04.2022 wurde er von der Firma jedoch nicht mehr eingesetzt.
Am 02.05.2022 legte der Kläger der Beklagten eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung seines behandelnden Arztes für den Zeitraum vom 02.05.2022 bis zum 06.05.2022 vor. Interessanterweise kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis genau an diesem Tag, dem 02.05.2022, wobei die Kündigung dem Kläger am folgenden Tag, dem 03.05.2022, zugegangen ist. Die Kündigung sollte zum 31.05.2022 wirksam werden.
Der Kläger reichte nachfolgend zwei weitere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ein, die seine Arbeitsunfähigkeit bis zum Ende des Monats, also bis zum 31.05.2022, bescheinigten.
Die Zeitarbeitsfirma äußerte daraufhin Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Krankmeldung, insbesondere aufgrund des zeitlichen Zusammenfalls von Krankmeldung und Kündigung. Vor Gericht vertrat der Kläger die Ansicht, dass er zuerst krankgemeldet war, bevor er die Kündigung erhielt, und forderte eine Entgeltfortzahlung. Die Beklagte hingegen sah die Glaubwürdigkeit der Krankmeldung aufgrund des exakten Übereinstimmens von Krankheitsdauer und Kündigungsfrist als erschüttert an und lehnte die Zahlung ab.
Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen
Das vorinstanzliche Arbeitsgericht Hildesheim hatte zuvor die Klage des Arbeitnehmers zugelassen, da es der Auffassung war, dass die Glaubwürdigkeit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung durch die Arbeitgeberin nicht erschüttert worden sei.
Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen bestätigte diese Entscheidung und führte in seinem Urteil weiter aus: Wenn ein Arbeitnehmer unmittelbar nach Erhalt einer Kündigung vom Arbeitgeber – quasi “postwendend” – eine Krankmeldung oder Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegt, kann dies durchaus den Beweiswert der Bescheinigung erschüttern. Dies ist insbesondere der Fall, wenn der Krankmeldungszeitraum nahtlos die gesamte Kündigungsfrist abdeckt, selbst wenn dies durch mehrere aufeinanderfolgende Bescheinigungen geschieht.
Allerdings betonte das Gericht auch, dass der zeitliche Ablauf entscheidend sei. Wenn ein Arbeitnehmer zuerst seine Krankheit meldet und erst danach eine Kündigung vom Arbeitgeber erhält, fehlt der notwendige kausale Zusammenhang, um den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu untergraben. Des Weiteren wies das Gericht darauf hin, dass allein die Tatsache, dass ein Arbeitnehmer am letzten Tag seiner Anstellung krankgeschrieben ist und am nächsten Tag gesund bei einem neuen Arbeitgeber anfängt, den Beweiswert der Bescheinigung nicht automatisch infrage stellt, es sei denn, es treten weitere Umstände hinzu.
Eine Revision zu diesem Urteil ist derzeit beim Bundesarbeitsgericht anhängig. Es bleibt also abzuwarten, ob diese Entscheidung Bestand haben wird.
Was bedeutet das für Arbeitnehmer und Arbeitgeber?
Dieses Urteil bietet sowohl Arbeitgebern als auch Arbeitnehmern etwas mehr Klarheit darüber, wie Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen im Kontext von Kündigungen zu bewerten sind. Es unterstreicht die Notwendigkeit für Arbeitnehmer, die Rechtmäßigkeit und Glaubwürdigkeit ihrer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sicherzustellen, insbesondere wenn sie zeitlich nahe an einer Kündigung ausgestellt werden. Arbeitgeber sollten sich dessen bewusst sein und bei Zweifeln an der Glaubwürdigkeit einer Bescheinigung entsprechende Schritte unternehmen.
Fazit
Das Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen (Aktenzeichen: 8 Sa 859/22) beleuchtet einen essenziellen Aspekt im Arbeitsrecht: die Bedeutung und Glaubwürdigkeit von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, insbesondere im Kontext von Kündigungen. Das Gericht hat deutlich gemacht, dass der zeitliche Ablauf zwischen der Krankmeldung eines Arbeitnehmers und dem Erhalt einer Kündigung entscheidend ist. Dieses Urteil betont, dass eine unmittelbare Krankmeldung nach einer Kündigung durchaus Zweifel an der Echtheit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aufwerfen kann, besonders wenn die Krankmeldungsperiode genau die Kündigungsfrist abdeckt.
Allerdings ist es ebenso bedeutsam zu beachten, dass wenn ein Arbeitnehmer zuerst krankmeldet und danach eine Kündigung erhält, dieser zeitliche Ablauf die Glaubwürdigkeit der Krankmeldung stützt. Das Urteil ist eine Erinnerung an Arbeitnehmer, sich der potenziellen Auswirkungen ihrer Handlungen in solch sensiblen Situationen bewusst zu sein und die Bedeutung der Glaubwürdigkeit von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen nicht zu unterschätzen. Für Arbeitgeber bietet das Urteil eine Orientierungshilfe, wie sie in ähnlichen Fällen vorgehen sollten.
Da dieses Urteil derzeit beim Bundesarbeitsgericht in Revision ist, bleibt abzuwarten, wie dort diese Thematik bewertet wird. Bis dahin bietet das Urteil jedoch Arbeitnehmern und Arbeitgebern eine wertvolle Perspektive und weitere Klarheit in einem oftmals heiklen Bereich des Arbeitsrechts.
Wir stehen Ihnen gerne für eine persönliche Beratung zur Verfügung. Unser erfahrenes Team von Anwälten kann Ihnen helfen, die Auswirkungen dieses Urteils zu verstehen und Sie bei rechtlichen Fragen unterstützen. Anwaltskanzlei Bauer & Kollegen
Dieser Blog-Artikel dient nur zu Informationszwecken und stellt keine Rechtsberatung dar. Bei spezifischen Fragen oder Anliegen sollten Sie sich an einen qualifizierten Rechtsanwalt wenden.
Quelle der Entscheidung: Entscheidung des Landesarbeitsgericht Niedersachsen vom 08.03.2023, oder: Direktlink zur Entscheidung des Gerichtes.